Nach einer Nacht, die ich tief und fest schlafend verbracht habe, treibt mich
die Morgensonne, die von Osten her genau auf mein Zelt fällt, aus dem
Schlafsack. Es ist tatsächlich strahlend blauer Himmel, und die
Temperaturen sind auch in Ordnung. Während das Wasser für meinen
Frühstückskaffee warm wird, räume ich schonmal die ersten
Sachen zusammen und hänge meine Handtücher zum Trocknen auf die
improvisierte Wäscheleine zwischen Fahrrad und Zelt. Schließlich
will ich einigermaßen früh hier weg, da ich ja noch den Brenner
vor mir habe. Die Handtücher werden auch zügig trocken, und
so stehe ich nach dem Frühstück recht schnell in den
Startlöchern. Die Ennepetalerinnen sind schon irgendwo in den Bergen
unterwegs, so dass ich mich von ihnen leider nicht verabschieden kann.
Wie dem auch sei: Am zeitigen Vormittag verlasse ich den Campingplatz
und radle erstmal Richtung Nordosten, der Brenner-Paßstraße
entgegen.
Die Straße aus dem Stubaital heraus ist glücklicherweise nicht
so anstrengend, wie ich sie mir auf dem Hinweg vorgestellt hätte.
Aber ich glaube, es ist normal, dass man diverse Aufgaben im
erschöpften Zustand als noch anstrengender einstuft als sie sind.
An der Brenner-Straße angekommen halte ich mich rechts und fahre
wieder bergauf. Ich komme an dem Hotel vorbei, wo man mir gestern ein
Zimmer andrehen wollte. Ob ich heute früher unterwegs gewesen
wäre, wenn ich in einem weichen Bett gelegen hätte?
Während ich so dem Brenner entgegenfahre, überholen mich alle möglichen Fahrzeuge, von Pkws über Wohnmobile und Busse bis hin zu Motorrädern. Trotz der parallel verlaufenden Autobahn ist hier immer noch viel Verkehr, nur selten mal ist es ganz still um einen herum. Aber ich denke mal, ohne die Autobahn, so häßlich sie auch in dieses eigentlich recht schöne Tal hineingepflanzt wurde, wäre hier noch viel mehr Verkehr. Sogar zwei Reiseradler überholen mich. Die beiden haben den Vorteil, dass sie das Gewicht von Zelt und Kochausrüstung auf zwei Fahrräder verteilen können. Dann sieht das nämlich auch nicht mehr so vollbepackt aus: Die Zeltstangen ragen hochkant aus einer der Hinterradtaschen, und der Rest des Zeltes wurde nahezu unsichtbar verteilt. Ich sehe dagegen mit meiner dicken Tasche auf dem Gepäckträger, in der sich Zelt, Isomatte und Schlafsack befinden, schon wie ein ziemlicher Lastesel aus.
Nichtsdestotrotz kämpfe ich mich Höhenmeter für Höhenmeter nach oben, durch ein immer noch recht friedliches und landschaftlich schönes Tal. Die größten Ansammlungen von Wohn- oder Industriegebäuden finden sich vor allem an Stellen, in denen seitlich einfließende Täler oder eine aus anderen Gründen langsamere Fließgeschwindigkeit des Baches zu Ablagerungen führten. Über weite Strecken ist das Tal jedoch recht eng und felsig, zumindest oberhalb von 1000 Höhenmetern.
Das Gemeine am Brenner ist, dass man über einige Kilometer relativ locker hochfahren kann, und es dann der letzte Kilometer, wenn man schon glaubt, bald über den Paß hinübergucken zu können, nochmal mächtig in sich hat. Die Steigung beträgt hier über zehn Prozent, und wenn man schon den bisherigen Anstieg in den Knochen hat, läuft auch nicht mehr viel. Dass ich nicht schieben muss, ist eigentlich alles. Ich kämpfe mich wirklich Stück für Stück nach oben. 200 Meter fahren, 2 Minuten Pause, das ist das Tempo, das die Straße jetzt vorgibt. Zudem gibt es keinen Randstreifen; bei jeder meiner Pausen muss ich mich an die Leitplanke drücken, um kein Hindernis für die vorbeifahrenden Busse und Wohnmobile darzustellen. Aber irgendwann ist auch das geschafft, ich fahre in kleinem Gang auf die Paßhöhe zu, der italienischen Grenze entgegen.
Nach der Paßkontrolle rolle ich auf italienischer Seite gen
Süden, eine jetzt wieder besser ausgebaute Straße hinunter.
Sie verläuft immer noch parallel zur Autobahn. Auch einige Tunnel
gilt es zu durchqueren, und da merke ich schon, dass ich mir besser
ein Batterierücklicht mitgenommen hätte. Gut, ich lege immer
den Dynamo an und fahre so nicht ganz im Dunkeln durch diese Tunnel,
aber ein Blinklicht zusätzlich hätte bei dem in Italien
üblichen Fahrstil mein Sicherheitsgefühl schon ein wenig
erhöht.
Am Ende der Abfahrt wartet das Eisacktal. Nun muss ich wieder mehr treten.
Es geht zwar immer noch flußabwärts an der Eisack entlang, aber
deren Strömung ist zu schwach, als das sich ein nennenswertes
Gefälle hätte ausbilden können.
Ich hatte mal überlegt, von hier aus nicht der Eisack zu folgen,
sondern direkt nach Süden über das Penser Joch zu fahren.
Die Höhe ist in der Karte mit 2500 Metern angegeben, aber es wäre
ein recht kurzer Anstieg gwesen - was letztendlich aber auch steil
bedeutet. In meiner körperlichen Verfassung schminke ich mir das
Vorhaben aber ab. Ich lasse also die entsprechende Abzweigung rechts liegen,
sehe aber von weiter flußabwärts, wie sich die Straße zum
Penser Joch an einem Steilhang entlang in die Höhe zieht. Alleine
von dem Anblick bin ich froh, nicht da hochgefahren zu sein - und was ich
gesehen habe, sind ja erst die ersten paar hundert Höhenmeter, von
über 1500. Irgendwo denke ich auch, ein hoher Paß pro Tag
sollte reichen, und der Brenner war schon hart genug.
Es ist 14:30 Uhr. Im Eisacktal regnet es, und es sind noch 25 km bis Brixen. Das Wetter und der Verkehr auf der SS12 sind ein wenig frustrierend. Es ist erstaunlich, wie schnell sich im Gebirge manchmal das Wetter ändert. Ich frage mich auch, ob jetzt vielleicht auf der Alpennordseite die Sonne scheint. Aber wenigstens ist es nicht kalt, und mein Trost ist, dass es eigentlich nur wärmer werden kann, je weiter ich nach Süden fahre. Nur der Verkehr, der ist wirklich nervig. Den Vogel schießt ein Mercedes-Fahrer ab, geschätztes Alter etwa 70: Kein Gegenverkehr, und trotzdem überholt er nicht. Es geht leicht bergab, und ich bin mit Tempo 35 ganz gut unterwegs. Vielleicht will er mich auch auf irgendetwas aufmerksam machen. Bin ich etwa kurz davor, ein Gepäckstück zu verlieren? Als der Regen stärker wird, und ich auf der linken Straßenseite ein Buswartehäuschen erblicke, beschließe ich, anzuhalten und mich unterzustellen. Da auf der rechten Straßenseite auch eine Einfahrt ist, verringere ich das Tempo und halte erstmal (aus Sicherheitsgründen) rechts an. Ich ernte ein Hupen von dem Siebzigjährigen, und jetzt gibt er wieder Gas. Hat sich also nur nicht getraut, zu überholen, obwohl alles frei war. Ich glaube, manche Leute sollten ihren Führerschein wirklich abgeben. Der Leidtragende bin natürlich ich, weil der Kerl eine endlos lange Schlange hinter sich hergezogen hat, so dass es noch eine Weile dauert, bevor ich die Straße überqueren und mich unterstellen kann.
Kaum bin ich abgestiegen und esse etwas, da fällt die erste Reisedepression über mich her. Wie schön wäre es jetzt zu Hause auf meinem Sofa, zugedeckt mit einer warmen Decke, ein schöner Film im Nachmittagsprogramm, und vor mir Kaffee und Kuchen. Man wird sich wohl damit abfinden müssen: solche Momente kommen einfach - und sie gehen auch wieder fort. Notfalls muss man sich einfach nochmal klarmachen, warum man die Tour angetreten hat. Und als nach etwa 40 Minuten das Wetter wieder etwas besser wird (soll heißen: der Regen wird schwächer ...) kann ich mich auch wieder motivieren und weiterfahren.
Als Tagesziel habe ich mir irgendwann Brixen gesetzt, und dort laufe ich auch am späten Nachmittag ein. Ich finde einen Campingplatz (mit dem wunderbar italienischen Namen "Camping Löwenhof" - aber ich bin ja auch erst in Südtirol), der zwar mit einem Hotel zusammenhängt, aber preislich und von den Leistungen her ganz ordentlich daherkommt. Dort quartiere ich mich ein. Während ich mein Zelt aufbaue, kommt ein Motorradfahrer auf einer Yamaha FJ 1200 daher. Peter heißt er, ist leicht untersetzt und wirkt ziemlich gemütlich. Er gibt mir den Tip, mein Zelt vielleicht nicht direkt an den kleinen Wasserfall aufzubauen, da dessen Geräusch mich nachts am Schlafen hindern könnte. Später taucht noch Jürgen auf, ein Endurofahrer, der am nächsten Tag nach Ungarn weiter will. Ansonsten bleibt es auf dem recht leeren Campingplatz ziemlich still; von den Einwohnern der wenigen Wohnwagen sieht und hört man nichts. Wir drei kochen zusammen und kommen dabei ins Gespräch. Während Jürgen aus der Nähe von Nürnberg ist, stammt Peter aus Hessen, worauf wir beschließen, am nächsten Morgen Adressen auszutauschen - vielleicht sieht man sich ja mal auf einem Motorradtreffen wieder.
Der Swimmingpool des Hotels darf nur mit Badekappe benutzt werden, und die Nachfrage bei der Rezeption, wie ernst das gehandhabt wird, ergibt die Antwort "Sehr ernst" sowie die Information, dass man Badekappen in dem zum Campingplatz gehörenden kleinen Laden auch kaufen könne. Nein danke, sage ich mir, worauf ich mit meiner verkehrt herum aufgesetzten Schirmmütze der BSG Aschaffenburg den Pool besteige. Der kurzhaarige Peter kümmert sich überhaupt nicht darum, und Jürgen bindet seine langen, blonden Rastalocken senkrecht nach oben. Das sieht zwar total abgefahren aus, verhindert aber, dass diese ins Wasser kommen. Den Rest des Abends verbringen wir drei noch zusammen bei ein paar Flaschen Wein auf der überdachten Veranda des Hotels, und abschließend kann ich sagen, dass die Erinnerung des Weges von der Veranda zum Zelt bereits am Morgen verblasst war, und der oben erwähnte Wasserfall in dieser Nacht für mich nicht existierte.