Es ist recht frisch heute morgen, aber nicht wirklich kalt. Ich habe das Gefühl, die Leute gucken angestrengt weg. Vielleicht passe ich doch nicht so ganz in ihre Urlaubsidylle. Das Wetter ist ja im Prinzip gut, nur der Nebel. Du weißt jetzt schon, dass du bald nasse Haare und Klamotten haben wirst. Und das Sprit-Problem muß ich auch noch lösen. Hoffen wir mal auf hilfsbereite Motorradfahrer.
So, jetzt erstmal Sachen zusammenpacken und Kaffee trinken gehen. Mit dem Kaffee genehmige ich mir auch noch ein kleines Frühstück in der Campingplatz-Rezeption, das ich anschließend direkt mit dem Platz zusammen bezahle. Es ist etwa 9:45, als ich losfahre. Der Kochelsee hängt noch im Nebel, und mit dem Fichtenwald an der Steigung zum Walchensee wirkt alles heute etwas kühl. An einem Rastplatz sehe ich zwei Moppedfahrer. Auf BMWs. Das ist meine Chance, und ich frage höflich, ob ich ihnen nicht etwas Benzin abkaufen kann. Zunächst gucken sie etwas skeptisch, verstehen dann aber mein Anliegen und zapfen etwas Benzin aus dem Tank einer der beiden Maschinen. Noch nichtmal Geld wollen sie. "Denk einfach an uns, wenn du das nächste Mal kochst" ist ihr lapidarer Kommentar.

Wenige Kilometer weiter komme ich auch schon zum Scheitelpunkt dieser
Verbindungsstraße zwischen Kochel- und Walchensee.
Der Ausblick und die kurze Abfahrt zum sonnenbeschienenen Walchensee sind
herrlich. Ich sehe einen schönen Campingplatz am anderen Ufer - deutlich
schöner gelegen als der, auf dem ich letzte Nacht war. Ich ärgere
mich trotzdem nicht, schließlich hatte es ja geregnet. Außerdem
wollte ich vermeiden, mich direkt am ersten Tag zu überanstrengen.
Weiter geht die Fahrt durch eine herrliche Voralpenlandschaft. Ich fahre
eine Landstraße leicht bergauf nach Süden; man hat schon das
Gefühl, dass man sich den Alpen nähert. Ein Schild neben der
Straße kündigt den "Landkreis Garmisch-Patenkirchen" an.
Na, wenn das mal nicht auf Urlaub hindeutet. Es ist herrlicher Sonnenschein,
und ich bewege mich mit dem Fahrrad in einer Region, die ich vorher nur
von Fernsehsendungen oder der Straßenkarte kannte.
Auf dieser Straße fahre ich weiter bis nach Mittenwald. Es ist dort aufgrund von Verkehrsberuhigungen nicht ganz einfach, sich zurechtzufinden. Dennoch entdecke ich einen Supermarkt, bei dem ich nochmal meine Getränkevorräte auffülle. Nach dem Ort habe ich die Wahl zwischen der Hauptstraße nach Süden und einer kleinen Nebenstraße, die nach rechts abzweigt und über das Seefelder Hochplateau führt. Diese Nebenstraße ist länger und steiler, aber vermutlich auch schöner, und da der Weg das Ziel ist, ist meine Entscheidung gefällt.
Am Rande einer bewaldeten Schlucht fahre ich auf das Plateau hinauf, um
kurz darauf den österreichischen Grenzübergang zu erreichen.
Offenbar macht man sich auf einem Fahrrad und auf Nebenstrecken
verdächtig, denn der Grenzer will meinen Ausweis sehen. Dasselbe
wiederholt sich übrigens auch später beim Übertritt nach
Italien.
Während ich nach der Durchquerung von Leutasch auf dem zwar
etwas karg wirkenden, aber dennoch landschaftlich
schönen Plateau dahinfahre, ziehen erste Wolken auf. In Verbindung mit
der Höhe und dem Wind wird es schon ein bißchen kühl.
Im nächsten Ort halte ich an und will ein paar Fotos machen, aber an
meiner Kamera tut sich nichts. "Batterien alle." denke ich und
kaufe mir ein paar neue - zu deutlich überhöhtem Preis, hier
in dieser Abgeschiedenheit - in einem Fotogeschäft. Nur um
anschließend festzustellen, dass die Ursache für das Versagen des
Apparates nicht in der Stromversorgung liegt, sondern in irgendwelchen
Sandkörnern, die den Verschluß verklemmt haben. Zum Glück
bekomme ich das irgendwie wieder hin ... und habe jetzt auch ein paar
Ersatzbatterien für den Fall der Fälle.

Das Seefelder Hochplateau ist nicht - wie man vermuten könnte - eine hochgelegene Ebene, sondern selber noch sehr hügelig und mit steilen Anstiegen und Abfahrten gesegnet. Auf einem der Anstiege ereilt mich dann einer der Albträume eines jeden Radfahrers: Ein Krampf im Oberschenkelstrecker. Mein erstes Problem ist daraufhin, vom Fahrrad runterzukommen. Ich falle mehr, als dass ich absteige. Gott sei dank sieht mich momentan keiner. Ich ruhe mich erstmal für eine Stunde auf einem Gehweg aus und nutze die unfreiwillige Pause für meine Mittagsrast. Nach einem leichten Stretching-Programm wage ich mich irgendwann wieder auf mein Fahrrad - nachdem ich den Rest des Anstieges hochgeschoben habe - und fahre langsam und bei betont kleinen Übersetzungen weiter. Erfreulicherweise bleibe ich im weiteren Verlauf des Tages (und der gesamten Tour) von weiteren Krämpfen dieser Art verschont. Lediglich den ein oder anderen Wadenkrampf bekomme ich heute noch zu spüren.
Irgendwann mündet diese Nebenstraße dann wieder auf die Hauptstraße zwischen Mittenwald und Innsbruck. Diese ist sehr gut ausgebaut, und ich freue mich schon auf die Abfahrt. Die kommt auch, und zwar mit steilen 16 Prozent Gefälle. Dann entdecke ich das Schild, welches mir zunächst meine Hoffnungen zu zerstören droht: Radfahrer müssen hier eigentlich absteigen! Nach einem kurzen Blick auf die Landkarte und mit der Gewißheit, dass es nur diese eine Straße ins Tal gibt, halte ich mich natürlich nicht an das Verbot. Ich denke mir einfach, dass die Chancen, diese Abfahrt zu überleben, wohl nicht für alle Radfahrer gleich schlecht sind, sondern vom Zustand des Fahrers und des Rades abhängen, also sehe ich auch nicht ein, hier den Berg runterzuschieben. Dafür stelle ich hier die Tages-Höchstgeschwindigkeit auf.

Vor Innsbruck regnet es leicht. Ich schaue mich nach einem Campingplatz um,
aber bin auch nicht wirklich bemüht, einen zu finden. Je weiter ich
heute komme, desto besser. Also wage ich auch noch den Anstieg Richtung
Brenner - allerdings mit häufigen Pausen, da ich doch schon ziemlich
kaputt bin. Der Anstieg ist trotzdem noch recht interessant: Ein enges,
steiles Sträßchen, dass zwar nicht mir allein gehört,
aber zum Glück nicht übermäßig stark befahren ist,
da die Brenner-Autobahn parallel verläuft. Deren
abenteuerliche Brückenkonstruktionen bekommt man auch hin und
wieder zu Gesicht. Und an einer Müllhalde, in deren Nähe die
Luft trotz der Höhe recht dick wird. kommt man auch noch vorbei.
Den Abzweig Richtung Stubaital lasse ich rechts liegen und quäle mich
weiter den Berg hinauf. Da auf meiner Karte kein höher liegender
Campingplatz eingezeichnet ist, frage ich in einem Hotel nach, ob es
denn einen gäbe. "Nein" antwortet man mir, "aber Sie
können gerne bei uns ein Zimmer nehmen." Danke, aber das paßt
nun wirklich nicht in meine studentische Reisebudgetplanung. Ich entscheide
mich also, wieder ein Stück zurück zu fahren und den Campingplatz
im Stubaital zu nehmen. Nach einer kurzen, aber heftigen Steigung geht
es um eine Linkskurve und hinunter ins Tal. Und wen sehe ich da? Die
beiden Ungarn vom Vorabend. Sie sind hierher getrampt, haben sich wohl
heute im Laufe des Tages hier im Tal umgeschaut, und gehen jetzt zu
Fuß zur Hauptstraße, um heute nach einen Lift nach Italien
zu bekommen. Ich wünsche den beiden viel Glück auf ihrer
Weiterreise.
Ich bin mittlerweile - später Nachmittag - ziemlich am Ende. So langsam tut mir alles weh. Eben bin ich noch durch einen kleinen Ort gefahren, und habe schon den Ortsnamen vergessen. Ich glaube, auf einer längeren Radtour verblödet man allmählich. Zumindest, wenn man seinen Körper so auspumpt wie ich in den letzten beiden Tagen, zumal ich sowas ja eigentlich gar nicht mehr gewohnt bin. Jede kleine Steigung wird zur Tortur, zeitweise schiebe ich auch wieder, oder mache viele Pausen. Und das alles in der Gewißheit, morgen wieder denselben Weg aus diesem Tal herausnehmen zu müssen, da das Stubaital eine typische Alpen-Sackgasse ist. Am Ende des Stubaitals gibt es keine Paßstraße, die einen über den Alpenhauptkamm nach Süden bringen könnte.
Letztendlich schaffe ich es aber dann doch ins Örtchen Stubai, wo
sich auch der Campingplatz befindet. Er ist relativ schön
gelegen, nahe beim altertümlichen Ortskern. Die Geschäfte
haben bei meiner Ankunft leider schon zu, und meine Getränke neigen
sich dem Ende entgegen. Ich komme mit
mehreren Mädels aus Ennepetal ins Gespräch, die hier campen.
Diese erkennen recht schnell meine etwas unangenehme Lage und schenken mir
eine Packung Apfelsaft, was mich wieder ein wenig aufbaut - auch
psychisch.
Dann gönne ich mir erstmal eine warme (!) Dusche.
Interessanterweise sind hier
trotz der alten Bausubstanz die Duschen hochmodern: die Glas-Schiebetür
am Eingang kann nur mit einer Magnetkarte geöffnet werden.
Ich koche mir mein Abendessen, denke an die beiden Biker, die mir den
Sprit spendiert haben, und denke mal wieder über das nach, was vor
mir liegt. 300 Höhenmeter warten noch auf mich, bevor ich in
Italien bin. Ich kann dabei immer noch in kurzer Hose vorm Zelt sitzen,
denn trotz der Höhe ist es relativ warm. Ziemlich trocken ist
es obendrein, so dass sich auch auf der Wiese keine Feuchtigkeit
bildet.
Dafür ist das Zelt noch nass, genauso wie die Plane zum Unterlegen.
Ich hoffe, dass das bis morgen früh trocken ist.
Und auch, wenn ich heute mehrere Krämpfe gehabt habe, bin ich recht
zuversichtlich bezüglich des weiteren Verlaufs meiner Tour. Auch
in freudiger Erwartung der Landschaften, durch die ich noch fahren werde.
Und auch in Erwartung der körperlichen Herausforderungen:
Der Brenner wartet!