Riva del Garda, das erste größere Ziel meiner Reise, liegt hinter mir. Während ich die ersten paar Meter zurücklege, laufen in Gedanken nochmal die letzten zwei Tage vor mir ab. "Notte di Fiaba", ich werde dich wohl so bald nicht vergessen. Im Supermarkt habe ich mich morgens vor der Abfahrt noch mit einigen Lebensmitteln eingedeckt, und am späten Vormittag, nachdem mein Hab und Gut wieder auf dem Fahrrad verstaut ist, mache ich mich auf den Weg. Die Stadt Riva hat mich mit positiven Gefühlen erfüllt; der Campingplatz dagegen hatte nur den Vorteil der günstigen Lage. Zu dem etwas eigenartigen Publikum kam auch noch der merkwürdige Geruch vom Nebengrundstück, dem ich jetzt Lebewohl sagen kann.
Der Weg ist relativ einfach zu finden. An der Innenstadt vorbei geht es erstmal ein Stück nach Westen, bevor ich auf die in Nord-Süd-Richtung verlaufende Straße einbiege, die sich recht abenteuerlich am Westufer des Gardasees an die Felsen schmiegt. Nach nur einigen hundert Metern kommt jedoch schon die Abzweigung, die mich wieder in die Berge bringen soll. Laut meiner Karte muss ich hier rechts abbiegen und durch einen kurzen Tunnel bergauf fahren - dumm ist nur, dass am Eingang des Tunnels ein knapp zwei Meter hoher Zaun die Weiterfahrt verwehrt. Aber ich bin guter Dinge heute morgen und entschlossen, meine Pläne in die Tat umzusetzen. Auch körperlich fühle ich mich nach dem Ruhetag unglaublich fit. Also klettere ich kurzerhand über den Zaun und bitte zwei MTB-Fahrer, mir beim Drüberheben des Fahrrades zu helfen, was diese auch bereitwillig tun. Ich bin nicht der erste, der sich von diesem Zaun nicht abschrecken läßt; wenige Minuten vor mir haben schonmal zwei Radler diesen Weg gewählt. Dennoch bin ich gespannt, wohin mich diese Straße führen wird.
Die Straße führt zunächst steil bergauf, um dann etwa hundert Meter über der Uferstraße nach Süden zu führen. Sie ist abenteuerlich in den Fels gehauen: Manchmal fährt man durch kurze Tunnel, manchmal auch unter überhängenden Felsformationen hindurch, ohne jedoch wesentlich an Höhe zu gewinnen. Auf der Straße liegen überall Felsbrocken herum, und die permanente Steinschlaggefahr ist vermutlich der Grund dafür, dass diese Straße gesperrt wurde und durch eine Neubaustraße ersetzt wurde, die weiter nördlich Richtung Westen führen soll. Mir ist das gerade recht so. Ganz selten begegnet man hier einem MTB-Fahrer, Autos gibt es gar nicht, und mit dem schönen Wetter entspricht dieses Sträßchen ziemlich genau dem "Der Weg ist das Ziel"-Ideal, um das man als Radreisender ja sowieso nicht herumkommt. Die Sonne steigt immer höher und sollte langsam zur Belastung werden, ich genieße jedoch die Wärme und das Licht und fahre alsbald mit freiem Oberkörper.
Nach einigen Kilometern entschließt sich die Straße dann doch, ein von Westen kommendes Tal dazu zu nutzen, in dieses Tal hinein- und dann in Serpentinen bergauf zu führen. Schade. Ich hätte diese einmalige Aussicht auf den Gardasee und die umliegenden Berge, noch dazu von dieser einmaligen Straße, gerne weiter genossen. Aber nun gewinne ich langsam an Höhe. Unter mir bleiben einige malerische Bauernhäuser zurück, und die Straße ist nach wie vor menschenleer. Ein Pärchen auf Mountainbikes überholt mich zwischenzeitlich, aber die sind ja auch ohne Gepäck - wie fast alle Radler hier. Die Gegend scheint ein echtes Paradies für MTB-Spezialisten zu sein.
Nach noch nicht mal zehn Kilometern ist die gemütliche Fahrerei jedoch vorbei: Ein weiterer Zaun, um den ich mein Rad allerdings ohne fremde Hilfe herumtragen kann, überspannt die Straße, und nach einigen weiteren Metern mündet sie in eine besser ausgebaute Straße. Dies muss die neue Straße sein, von der mir berichtet wurde. Ich bin jedoch über meine Entscheidung froh: Zum einen führt diese Straße unterhalb der Einmündung durch einen mehrere hundert Meter langen Tunnel, und zum anderen ist sie stärker befahren. Das heißt jetzt nicht, dass viel Verkehr wäre, aber so an die fünf Autos pro Minute werden es schon sein.
Auch mehr Radfahrer gibt es hier, denen die gesperrte Straße, die ich genommen habe, wohl zu abenteuerlich erschien. Es geht nun weiter in (allerdings recht harmlosen) Serpentinen bergauf, und hohe Büsche und Bäume am Straßenrand spenden Schatten. Wie beschaulich es hier doch noch zugeht, gerade mal ein paar Kilometer vom wenige hundert Höhenmeter tiefer liegenden Gardasee entfernt, einem der Haupturlaubsziele der Mitteleuropäer. Irgendwann steigt die Straße nicht mehr weiter an, und mein Blick fällt auf den idyllisch gelegenen Lago di Ledro, an dessen Nordufer ich jetzt entlangfahre. Es ist einfach schön hier: die Landschaft könnte malerischer nicht sein, die Touristenströme haben dieses Tal offenbar noch nicht entdeckt, und die Sonne lacht vom Himmel, wenn auch mittlerweile ein paar Wolken aufgezogen sind. Nach einer kurzen Pause in einer Haltebucht entschließe ich mich, einen der Campingplätze am Ende des Sees aufzusuchen.
Während ich mich auf dem ersten der beiden Campingplätze ein wenig umschaue, begegne ich an einer Wasserstelle dem MTB-Pärchen, das mich vor nicht allzu langer Zeit überholt hatte. Wir unterhalten uns kurz, und die beiden äußern sich anerkennend über meine Fahrt hier hinauf, in Anbetracht des ganzen Gepäcks, das ich mit mir habe. Danach melde ich mich an und gehe erstmal im See schwimmen. Was sein muss, muss sein. Auch wenn das Wetter sich verändert hat, denn es ist jetzt ziemlich bewölkt. Darüberhinaus ist der Strand nicht gerade idyllisch, da jetzt im Spätsommer der Wasserstand des Sees recht niedrig ist und ich mich barfuß eine Böschung hinunterarbeiten muss. Dennoch ist die Schwimmerei erfrischend, lediglich in die Sonne legen kann ich mich nicht mehr.
Nach dem Aufbau meines Zeltes auf "Camping Azurro" und dem Eintrag einiger Zeilen in mein Reisetagebuch bin ich etwas planlos. Am besten gehe ich erst einmal duschen, dann habe ich das hinter mir, und die Haare können trocknen. Socken aus, Handtuch, Kämme und Duschzeug zusammengesucht, und rein ins Vergnügen. Und nach kurzem Umschauen wieder raus. Offensichtlich kostet die warme Dusche hier. Ich weiß nicht wieviel, ich weiß nicht für wie lange, aber ich ärgere mich und beschließe, heute nicht zu duschen. Wie doch so kleine Details das Urteil über einen Campingplatz völlig zerstören können, in Verbindung mit dem Wetterumschwung. Ich werde mir jetzt endgültig darüber klar, dass es eine saublöde Idee war, hier zu übernachten. Ich setze mich ans Zelt und schreibe an meinem Tagebuch weiter, amüsiere mich dabei dann allerdings noch über zwei Campinggäste, die im Morgenmantel übers Gelände wandern. Sicher, in Turnschuhen gehen auch die wenigsten zur Dusche, aber Morgenmantel ...
Genauso habe ich mich allerdings vorher über zwei deutsche Wohnwagenpaare amüsiert, die aus dem Aufbauen ihrer fahrbaren Eigenheime eine kleine Wissenschaft machten. Und dann haben sie noch nicht mal richtige Vorzelte aufgebaut, sondern nur so popelige Vordächer. Manchmal weiß ich wirklich nicht mehr, ob ich bei diesem klassichen Campertum lachen oder weinen soll. Wobei "klassisch" in diesem Fall bedeutet: mit Wohnwagen, Fernseher, Arbeitsteilung wie zu Hause (also Frau in der Küche etc.) und idyllische Langeweile. Andererseits: Der heutige Abend wird für mich bestimmt auch nicht übermäßig interessant, aber ich tröste mich damit, dass ich ja erstens morgen weiterfahre und es zweitens halt dumm gelaufen ist. Aber auch ich bin noch lernfähig und würde beim nächsten Mal sicher nicht so frühzeitig mein Tagewerk beenden.
Etwa zwanzig Meter weiter baut ein Motorradpärchen sein Zuhause auf. Eine Kontaktaufnahme mit den beiden scheitert jedoch daran, dass sie bereits wenige Minuten später wieder auf ihren Kisten sitzen und wohl die Umgebung erkunden. Wobei eines der Motorräder mit dem lila Tank und dem weißen Milka-Schriftzug drauf vielleicht nicht jedermanns Geschmack ist, aber doch zumindest eine eigene Note besitzt.
Am späten Nachmittag drehe ich zu Fuß eine Runde durchs Dorf, das sich entlang der Straße gebildet hat. Oder eigentlich neben der Straße, denn die Hauptstraße durchs Dorf wurde wohl vor einiger Zeit verkehrsberuhigt, so dass jetzt eine Umgehungsstraße parallel dazu zwischen See und Dorf verläuft. Viel gibt es hier nicht zu sehen. Der große neue Supermarkt, der etwas verloren mitten in der Landschaft steht, deutet jedoch darauf hin, dass man sich hier auf eine Zukunft voller Touristen einzustellen scheint. Nach meinem Dorfrundgang setze ich mich an einen freien Tisch vor eine Pizzeria. Es dauert interessanterweise nicht lange, bis mich ein aus Deutschland stammendes Paar fragt, ob sie sich dazu gesellen können. Klar können sie das, da ich als Alleinreisender nichts gegen neue Bekanntschaften einzuwenden habe. Die beiden haben sich auf dem hinteren der beiden Campingplätze einquartiert, haben dort nette Zeltnachbarn und können umsonst warm duschen. Beide sind um die 30, er fährt MTB-Rennen und sie macht das Begleitfahrzeug. In der Schweiz sind sie zwischen 2000 und 3000 Höhenmetern unterwegs gewesen, und erzählen mir wahre Horrorstories über das Wetter, das mich dort erwarten soll. Bei Pizza und einigen Bierchen genieße ich mit den beiden dann doch noch einen geselligen Abend, bis wir gegen zehn den Rückweg zu unseren Campingplätzen antreten. Dank der Biere bereiten mir aber die Schweizer Wetteraussichten kein allzu großes Kopfzerbrechen.